Franz Gertsch vor dem Bild
Franz Gertsch vor dem Bild "Johanna" © Balthasar Burkhard

Franz Gertsch: Blow up

Großartige Werkschau des Schweizer Hyperrealisten

 

Die Berner werden ja gern als langsam verspottet, aber dieser Künstler konnte sie alle
toppen: Franz Gertsch malte nicht nur Monate, er malte zum Teil mehr als ein Jahr an
einem Bild. Mit „Blow-Up“ präsentieren die Deichtorhallen derzeit eine fantastische Re-
trospektive des Schweizer Fotorealisten.

 

Was macht man, wenn man eigentlich figürlich malen will, aber der Zeitgeist einen
damit als Außenseiter abstempelt? In jungen Jahren war Franz Gertsch (1930 – 2022)
mit diesem Problem konfrontiert, doch er fand die Lösung, indem er Zeitschriftenbilder
von Popgrößen collagenhaft zusammenfügte, auf ihre Konturen reduzierte, und diese
großflächig mit Farbe ausfüllte. So bediente er Pop Art und Abstraktion gleichermaßen.
In den Deichtorhallen sind zwei, drei Beispiele aus den Anfängen zu sehen, die Gertsch
jedoch nicht zufriedenstellten. Erst durch einen Film fand der Schweizer zu dem Stil, der
ihm seinen Platz in der Kunstgeschichte sichern sollte. In Antonionis Thriller „Blow Up“
von 1966 entdeckt ein Fotograf bei der Vergrößerung seiner Aufnahmen eine Leiche im
Gebüsch und realisiert, dass sich der Mord direkt vor seinen Augen abgespielt hatte.
Die Wahrheit liegt also in der Vergrößerung – ein Schlüsselerlebnis für Franz Gertsch,
der heute als Pionier des Hyperrealismus gefeiert wird.


Fortan projizierte Gertsch Fotografien – zunächst aus Zeitschriften, bald aber eigene
Schnappschüsse – per Diaprojektor auf riesige Leinwände (anfangs aus Geldmangel
noch auf zusammengenähte Bettlaken) und malte sie mit unendlicher Akribie nach.
Die Motive fand er in der Familie, der Kunst- und Musikszene. Legendär die Porträts
des jungen Schweizer Künstlers Luciano Castelli und der Rockpoetin Patti Smith aus
den späten 1970er Jahren.

 

Der internationale Durchbruch gelang Gertsch auf der documenta 5 (1972) mit dem
Gemälde „Medici“ (1971-1972), ein Gruppenporträt von Luciano Castelli und seiner
vier Freunde, die lässig über einer Absperrung der Baufirma „Medici“ hängen. Allein
schon wegen seiner Größe von vier mal sechs Metern erregte das Bild Aufsehen. Die
eigentliche Provokation aber war die trefflich eingefangene (damals äußerst kritisch
beäugte) Jugendkultur, die Spannung zwischen der brillanten, hyperrealistischen
Darstellung der jungen Männer mit ihren langen Mähnen und des Titels, der auf die
berühmte Florentiner Renaissance-Familie und ihr Mäzenatentum referiert.

 

„Medici“ ist das größte der rund 60 Werke in den Deichtorhallen, einer Schau, in der
ein Highlight auf das nächste folgt. Fantastisch die Porträts von Irène, der exzen-
trischen Edelprostituierten, die es in den 1980er Jahren als „Lady Shiva“ zu Muse
und Model der Zürcher Avantgarde brachte. Unglaublich, wie subtil Gertsch hier die
Ambivalenz von Schönheit und Selbstzerstörung zum Ausdruck bringt. Hinreißend
das Bild von Patti Smith bei ihrem Auftritt in einer Kölner Galerie 1977, festgehalten
just in dem Moment, in dem sie dem unaufhörlich knipsenden Franz Gertsch völlig
entnervt ihren zerknüllten Text entgegen wirft. (Später hat Patti Smith die Werke von
Gertsch sehr geschätzt und ihn sogar im Atelier besucht). Und absolut umwerfend
das Riesenbildnis von Johanna (1983-1984), der damals 20-jährigen Tochter des
österreichischen Medienmoguls Hans Dichand. Der Fotorealismus ist hier auf die
Spitze getrieben, jedes Haar, jede Wimper, jede Pore des Gesichtes sind minutiös
ausgearbeitet.

 

Gleichzeitig markiert dieses Frauenporträt auch einen Wendepunkt. Die folgenden
zehn Jahre widmete sich der Maler dem Holzschnitt, vor allem den großformatigen
monochromen Landschaftsholzschnitten. Und diese Arbeiten sind mindestens so
spektakulär wie die berühmten Gemälde. So zart, so behutsam, so meditativ –
diese Arbeiten sind durchdrungen von einer (Umwelt-) Achtsamkeit und Spiritualität,
die schon vor 30 Jahren als radikaler Gegenentwurf zu unserer oberflächlichen und
schnelllebigen Welt zu verstehen war. Bezaubernd und berührend zugleich.

 

Isabelle Hofmann

 

„Franz Gertsch. Blow Up. Eine Retrospektive“, bis 4. Mai 2025,
Deichtorhallen, Haus für aktuelle Kunst,
Deichtorstr. 1 -2, 20095 Hamburg,
Di – So 11 – 18 Uhr, 1. Donnerstag im Monat bis 21 Uhr.


Weitere Informationen auf www.deichtorhallen.de

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